Viele Wege führen nach Berlin. Man kann die Geschichte der Stadt betrachten, ihre Architektur bewundern, die Sehenswürdigkeiten und Theater genießt, oder das Nachtleben zum Tage machen. Um Berlin kennen zu lernen empfehlen sich mehrere Wege. Aber neben all diesen, in jedem Stadtführer verzeichneten, Perspektiven auf die Spree-Metropole, gibt es auch noch eine verschleierte, geheimnisvolle Sicht auf die Geschichte der Stadt – der Mythos Berlin. Hier nun ein kleiner Einblick in die dunkle Geschichte der märkischen Metropole.
Berlins „weiße Frau“ – die Gräfin von O.
Untrennbar mit der Geschichte der Hohenzollern in Berlin ist die Sage von der „weißen Frau“ verbunden. Dieses Schlossgespenst zeigte sich laut Königs- und Volksmund immer vor Todesfällen im Adelsgeschlecht der Hohenzollern – bevorzugt im Cöllner Stadtschloss gegenüber dem Lustgarten, doch erschien die offenbar reiselustige Schreckgestalt angeblich u.a. auch Napoleon in Bayreuth. Zugrunde liegt dieser Geschichte eine unglückliche Liebe, die sich zwischen Kunigunde von Orlamünde und Albrecht „dem Schönen“ von Hohenzollern ereignet haben soll. Die noch jungen Witwe, die bereits zwei Kinder hatte, ließ der Graf wissen, „vier Augen“ stünden ihrer Liebe im Wege. Während er damit seine Eltern meinte, bezog sie es auf ihre Kinder und tötete sie, woraufhin „der Schöne“ eine andere, weniger mordlüsterne Frau heiratete. Kunigunde aber zog sich den Rest ihres Lebens ins Kloster zurück und verwünschte die Hohenzollern auf ihrem Sterbebett. Gleichwohl sich diese Geschichte noch in Franken abspielte, zog die „weiße Frau“ mit den Hohenzollern nach Berlin um und wirkte dort aktenkundig seit 1598. In der Folgezeit wurden der „weißen Frau“ immer wieder reale Frauen der Berliner Stadtgeschichte unterlegt, so zum Beispiel die Mätresse des Kurfürsten Joachim II., namens Anna Sydow. Bis ins 19. Jahrhunderte hielt sich der Glaube an die „weiße Frau“ – auf wen auch immer sie zurück gehen mochte. Dem Soldatenkönig schien es sogar einmal gelungen zu sein, dem Gespenst physisch habhaft zu werden und ihm eine ordentlich-preussische Tracht Prügel mit seinen Knotenstock verabreicht zu haben – leider entpuppte sich das Gespenst als ein dreister Grenadier, der in diesem Kostüm ungestört zu seiner angebeteten Hofdame gelangen wollte. Festzuhalten bleibt aber, dass die Berliner nicht erst seit King Kong die „weiße Frau“ kennen.
Die sprichwörtliche Berliner Sittenlosigkeit
Die Berliner und Cöllner Geschichte bringt zwei Sachverhalte immer wieder zu Tage: Zum Einen scheint es in Berlin immer genügend Freudenhäuser gegeben zu haben, doch zum Anderen gab es einen permanenten Mangel an Zuchthäusern – zumindest mussten ständig neue gebaut werden. So kann man in Berlin auch die Geschichte der Gefängnis-Architektur bewundern, von seinen ältesten Vertretern, wie dem Juliusturm auf der Zitadelle Spandau, in dem auch die unglückliche Anna Sydow verstarb oder der Turnvater Jahn einsaß, bis zu dem modernen Gefängnisbau in Tegel oder dem „U-Boot“, das ehemalige Gefängnis der Staatssicherheit in Hohen Schönhausen. Und doch wird immer wieder von Überfüllungen und provisorischen Kerkern und Haftzellen berichtet.
Ob auch immer die tatsächlichen Bösewichte in den Gefängnissen saßen, darf man womöglich bezweifeln, fest steht aber, dass Berlin seit jeher ein bewegtes Nachtleben hatte. Davon zeugt beispielsweise eine Verlautbarung des alten Soldatenkönigs von 1718: „Allgemeines Edikt zur Abstellung des Voll-Saufens … weil unter dem Vorwand des Gesundheit-Trinckens ein großer Mißbrauch vorgehet.“ Das erste Freudenhaus wird um 1400 erwähnt und lag in der Hurenstraße, die man später etwas verlegen in Rosen-Straße umbenannte. Doch wenn schon sittenlos, dann aber preußisch-sittenlos, was bedeutete, dass die nach dem königlichen Lusthaus-Reglement registrierten Lohnhuren in nummerierten Stuben auf einem Feldbett ihre Arbeit verrichtet, vermutlich um die Kunden schon an die Militärzeit zu gewöhnen… Jeder Bordellwirt musste pro Mitarbeiterin sechs Groschen in die Heilungskasse zahlen und „jede infizierte Lohnhure sofort in die Charité“ schicken, die erste gesetzliche Krankenversicherung, wenn man so will. Seine große Blütezeit erlebte das horizontale Gewerbe ironischerweise aber erst, als man es ab 1846 für gute 140 Jahren verbot. In den Vorstädten blühte das Vergnügungsgewerbe aber derart, dass sich das äußerst verrufene Rixdorf noch schnell aus Imagegründen in Neukölln umbenannte, um 1920 in das Stadt-Gebiet Groß-Berlins aufgenommen zu werden – viel geändert hat sich in dem Bezirk bis heute nicht und so liest man mitunter in Wohnungsanzeigen, dass S-Bahnhof und Bordell fußläufig zu erreichen seien.
Das Wirtshaus „Zur Rippe“ und der hinkende Mönch
Wer bisher noch an der einstigen Existenz der Riesen zweifelte, sollte einen Abstecher in das 1665 gegründete Wirtshaus „Zur Rippe“ machen. Dieses im ältesten Teil Berlins, dem Nikolaiviertel in Berlin Mitte, stehende Gebäude ziert eine überdimensionierte Rippe sowie ein Schulterblatt an der Außenfassade. Während heutige Zweifler von Walknochen sprechen, handelt es sich in Wirklichkeit um die Überreste des letzten in Berlin erschlagenen Riesen. Eine Sehenswürdigkeit, die man bei dem obligatorischen Besuch des Nikolaiviertels nicht versäumen sollte.
Falls einem dabei verzweifeltes Geheul ans Ohr dringen sollte, so ist das wahrscheinlich nur das Klagen des hinkenden Mönchs, der in dem unweit des Wirtshauses stehenden Grauen Klosters seinen eigenen Sohn unwissend einkerkerte und umkommen ließ, bevor er sein Vergehen bemerkte. Glücklicherweise wird sein Winseln heute meistens von dem brausenden Verkehr des stark befahrenen Mühlendamms verschluckt.